Im Grunde muss man nur zwei Dinge über den Schwarzen Schwan wissen. Erstens: Er kommt in der Natur extrem selten vor. Noch wichtiger aber ist: Es gibt ihn. Er ist das verkörperte Restrisiko (auch für die Finanzmärkte), die lebende Wahrscheinlichkeit, dass alles anders kommt, als wir es bisher angenommen haben.
Seit der Philosoph Karl Popper ihn als Kunstfigur einführte, steht der Schwarze Schwan für den Widerspruch zur eben noch herrschenden Wirklichkeit. Er verkörpert das Undenkbare, das wir dennoch denken müssen. Er symbolisiert das große Unheil, das die bisherige Normalität beendet, alle Prognosen widerlegt und Politiker wie Marionetten zu Handlungen führt, die ihnen eben noch wesensfremd schienen: Der rechtskonservative Präsident George W. Bush verstaatlicht die Investmentbanken, der Hoffnungsverkäufer Barack Obama wird zum Befürworter von Guantanamo, Merkel steigt aus der Atomenergie aus. Wenn der Schwarze Schwan landet, unterbricht er unsere Gewissheiten nicht nur. Er zerstört sie.
Wir sind ihm in jüngster Zeit häufig begegnet. Der Schwarze Schwan ist der Sendbote einer neuen Zeit, in der die alten Wahrscheinlichkeiten nicht mehr gelten. Das Verlässliche unserer Zeit besteht darin, dass es keine Verlässlichkeit mehr gibt. Fast scheint es, als wolle der Schwarze Schwan das Wappentier des gerade begonnenen Jahrhunderts werden.
In den vergangenen zehn Jahren kam es zu einer spürbaren Zunahme dessen, was die Amerikaner „Freak-Event“ nennen: Das Verrückte wurde normal. Die Normalität spielt verrückt.
Vier junge Araber lernen in Florida das Fliegen eines Jumbo-Jets und starten wenig später den größten Angriff gegen Amerika seit der Bombardierung von Pearl Harbor. Eine Bank in New York bricht zusammen, und weltweit werden 20 Millionen Menschen arbeitslos. Ein Gemüsehändler in Tunesien bekommt keine Lizenz für den Gemüsestand, verbrennt sich und löst damit eine arabische Revolution aus. Eine Zehn-Meter-Flutwelle schlägt an die Ostküste Japans, und in Deutschland legt die Kanzlerin knapp die Hälfte aller Kernkraftwerke still.
Eine „Welt ohne Halt“ sei entstanden, sagte Lord Dahrendorf schon vor Jahren. Niemand hält sie, und wir finden in ihr keinen Halt. Die Veränderung der Welt bedeutet auch eine Veränderung unserer Sprache. Viele Worte haben in den letzten Jahren ihre Bedeutung verloren. Der Friedhof der toten Worte ist gut belegt. Früher bedeutete „Verantwortung übernehmen“, dass ein Politiker noch am selben Tag zurücktrat. Heute bedeuten dieselben Worte: Wenn sich meine gestrige Politik nicht verkauft, mache ich eine andere.
„Reform“ war einst ein Sehnsuchtsversprechen. Heute ist es eine Drohung. Es bedeutet, ein Land in eine Situation zu bringen, in der es nie sein wollte.
Widerstand war einst eine große Vokabel, da sie vom Kampf gegen Unrecht und Unmenschlichkeit kündete. „Widerstand“ gegen einen neuen Bahnhof aber entwertet das Wort. Früher wollten die Widerständler die Gesellschaft verbessern, heute vor allem den Baulärm reduzieren.
Bonus ist auch so ein Wort: Der Bonus war eine Auszeichnung. Sie ließ die Gesichter aller, die ihn erhielten, vor Stolz erröten. Mittlerweile steht Bonus für Betrug, nicht nur an den Bankkunden, sondern auch am Prinzip einer gerechten Bezahlung. Ein Spitzen-Investmentbanker bekommt heute das 200-Fache des Ingenieurs.
Restrisiko war gestern das, was nie geschehen sollte. Heute ist das Restrisiko zur Realität geworden. Die Kernschmelze im Fernsehen ist keine Spielfilmszene aus Hollywood, sondern eine Liveschaltung der ARD. Es ist verdammt lang her, dass nach der „Tagesschau“ einfach ein Heimat-, Liebes- oder überhaupt ein Film gezeigt wurde. Die Wirklichkeit schreibt im Moment die dramatischeren Drehbücher.
Unsere Ängste waren bisher immer größer als die Wirklichkeit. Aber auch das gilt nicht mehr. Die Wirklichkeit hat die Ängste überholt. Man fragt sich, was das Schicksal wohl als Nächstes für die Menschheit bereithält: The day before tomorrow.
Schuld seien die Naturgewalten, heißt es jetzt. Aber das ist unfair gegenüber dem Seebeben. Früher schlugen die Wellen auf eine unberührte Küste. Heute hat man ihnen eine als Kraftwerk getarnte Atombombe in den Weg gebaut. So lockt man Schwarze Schwäne an.
In der Welt der Finanzwirtschaft herrscht eine ähnliche Lust am Nervenkitzel. Die alte Normalität – der Bürger spart, und die Bank verleiht sein Erspartes an Investoren – wurde suspendiert. Man kann sich kaum noch daran erinnern. Damals zählten unsere Banken zu den langweiligsten Firmen des Landes. Die dort Beschäftigten hießen Bankbeamte und gingen bedächtig ihrer wichtigsten Aufgabe nach, der Kreditvergabe. Wenn sie das Wort „Risiko“ nur hörten, bekamen sie einen Schreck und nicht wie ihre Nachfolger einen Erregungszustand.
Ihre Nachfolger nennen sich Investmentbanker oder auch „Master of the Universe“. Ihr Geschäftsmodell geht so: Der eine leiht dem anderen Geld, das er selbst nicht besitzt. Das hat er sich bei einem Dritten besorgt, der versprach, es bei einem Vierten zu holen. Und so weiter. Nun brauchte man nur dazu überzugehen, in den Bankbilanzen erhofftes Geld wie tatsächliches Geld zu behandeln, den Wunsch also mit der Wirklichkeit gleichzustellen. So geschah es dann auch. „Goodwill“, der Hoffnungswert, wurde allen Ernstes zu einer von Wirtschaftsprüfern und Finanzbeamten anerkannten Bilanzposition. Ein Kapitalismus ohne Kapital, das war der kühne Kern dieser Finanzmarktinnovation. Das Gegenstück zum „Restrisiko“ der Kraftwerksbetreiber war das „systemische Risiko“ des neuen Banksystems. Beides rief den Schwarzen Schwan auf den Plan. Er widerlegte unsere bisherigen Annahmen: Die Kernenergie ist nicht mehr sauber und billig, sondern bisweilen teuer und tödlich. Das Finanzsystem dient nicht automatisch der Realwirtschaft, sondern bedroht sie auch.
Nach den vielen kleinen und großen Tragödien der vergangenen zehn Jahre stehen nicht wenige sprachlos vor den Trümmern dessen, was sie gestern noch ihre Grundüberzeugung nannten: Großer Gott, was hast du uns angetan! In der gestrigen „Zeit“ war von „biblischer Heimsuchung“ die Rede.
Aber wahrhaftiger wäre es, die Rede auch an uns selbst zu richten: Wir sind nicht das Opfer der Veränderung, wir sind ihre Quelle. Die Komplexität der heutigen Welt ist Menschenwerk. Uran als Brennstoff war kein Gotteseinfall. Die Produkte der Investmentbanker finden sich auch in unseren Depots. Die Kommunikationsmittel des 21. Jahrhunderts haben den Sprengsatz an die vor modernen Verhältnisse in Arabien gelegt.
Egon Friedell schreibt in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit: „Eine neue Ära beginnt nicht, wenn ein großer Krieg anhebt oder aufhört, eine starke politische Umwälzung sich durchsetzt, sondern in dem Moment, wo eine neue Variante der Spezies Mensch auf den Plan tritt.“ Diese neue Variante der Spezies Mensch sind wir.
Heute leben wir in einer Welt des relativen Reichtums und der absoluten Ungewissheiten. Keiner hat sein Los in der Tasche. Es wird immer neu gezogen. Eine flatterhafte Gesellschaft und die sich selbst beschleunigende Technik ergeben einen Problemcocktail, dessen Wirkung sich der Vorhersage weitgehend entzieht. Die Wahrscheinlichkeit, dass alles anders kommt, konkurriert mit der Hoffnung, dass manches bleibt, wie es war. Das lineare Leben früherer Zeiten endet mit einem Feuerwerk von Komplexität. Es wächst die zunehmende Anfälligkeit der technischen und ökonomischen Systeme für unerwartete Schwankungen, Ausfälle und Havarien aller Art. Der Schwarze Schwan wird auf absehbare Zeit unser ständiger Begleiter sein. Schon steigen Zweifel auf, ob der moderne Mensch wirklich der Profiteur der Geschichte ist oder nicht einer Bilanzbetrügerei aufsitzt, die Zumutungen und Risiken als Gewinne ausweist.
Die nach dem Ende der Normalität knappste Ressource ist daher Zuversicht. Nichts benötigen wir dringender als Vertrauen in uns selbst: dass wir nicht nur furchtsam, sondern auch lernfähig sind. Dass wir außer Gier auch Bescheidenheit können und Politik nicht nur auf den Tag reagiert, sondern über den Tag hinausdenkt. Der Schwarze Schwan liebt die Hasardeure, aber er hasst die Nachdenklichen.
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