Der Schuldenstreit ist zwar abgewendet, aber Probleme und Krisen gibt es noch immer genug. Die Zinsen steigen weiter, die Wirtschaft stottert. Eine Rezession erscheint wieder möglich. Geopolitische Risiken gibt es reichlich. Doch die Finanzmärkte lässt das scheinbar kalt

Manchmal mag die Marktentwicklung so gar nicht zur wirtschaftlichen oder geopolitischen Lage passen. Aktuell ist es mal wieder so. Krisen, Probleme, Gefahren – davon gibt es reichlich: der Krieg in der Ukraine, der Konflikt zwischen China und Taiwan beziehungsweise zwischen China und den USA, nicht zu vergessen die weiter steigenden Zinsen und die stotternde Wirtschaft. Doch die Börsenkurse steigen. Sind Investoren also zu sorglos? „Das könnte man meinen“, sagt Stefan Risse, Kapitalmarktexperte bei Acatis Investment. Dieses Börsenjahr sei wieder ein gutes Beispiel dafür, dass das Logische nicht eintrete, wenn die überwiegende Mehrheit der Anleger genau darauf setze.

Der Pessimismus am Jahresanfang war wahnsinnig groß und noch immer sind die meisten Anleger skeptisch. „Dass der Markt sich trotz der restriktiven Geldpolitik so gut schlägt, ist schon außergewöhnlich“, sagt Risse. „Man könnte auch sagen, die Aktien sind in den Händen der Hartgesottenen, die so wie wir weniger auf Geopolitik und Geldpolitik schauen, sondern auf lange Sicht in Unternehmen investieren.“ Und diese Investoren verkaufen eben nicht, nur weil die Notenbank den Aktienaufschwung nicht befeuert.

Anleihemarkt erwartet fallende Zinsen

Ist die Antwort wirklich so einfach? „Ob die Investoren wirklich so sorglos sind, kommt ganz darauf an, wen man aktuell fragt“, sagt Pascal Kielkopf, Kapitalmarkt-Datenanalyst von HQ Trust. Während Investoren, die auf amerikanische Big Techs gesetzt haben, angesichts der hohen Kursgewinne der jüngsten Zeit sehr euphorisch seien, dürften Aktionäre, die in Nebenwerte investiert haben, deutlich verhaltener eingestellt sein. „Anleihen-Investoren preisen angesichts der inversen Zinsstrukturkurve sogar baldige starke Zinssenkungen ein, die nur in einem Rezessionsszenario so kommen dürften“, ergänzt Kielkopf. „Diese sehr divergenten Einschätzungen spiegeln die sehr ungewisse Lage aktuell ganz gut wider, weshalb man mit einer neutralen Positionierung für alle Fälle gut aufgestellt ist.“

Wenige Aktien sorgen für Börsenrally

Zumal der Aufschwung an den Märkten nur von wenigen Aktien angeführt wird. „Das stellt für alle Fondsmanager ein Problem dar, die nicht in diesen großen Werten hoch gewichtet investiert sind“, sagt Riße. Da diese Aktien auch in den gängigen Benchmark-Indizes wie S&P 500 Index oder MSCI World hoch gewichtet sind, ist es für die Fonds schwierig, ihren Vergleichsindex zu schlagen. „In der Vergangenheit war es außerdem immer ein Warnsignal, wenn der breite Markt nicht mehr mit nach oben lief, und nur noch die großen Titel stiegen“, gibt der Acatis-Experte zu bedenken. „Oft begann dann in der Vergangenheit ein Abschwung in absehbarer Zeit.“

Für den HQ-Trust-Experten ist das Auseinanderlaufen von Schwergewichten und dem Rest des Marktes kein eindeutig schlechtes oder gutes Signal ist. Kielkopf erwartet aber auch, dass sich dieses ‚Gap‘ mit Sicherheit wieder schließen wird. „Es stellt sich nur die Frage, wie – kommen die Mega Caps wieder runter, oder holen die Kleinen auf“, sagt er. „In den letzten Tagen konnte nach positiven Konjunkturdaten, die die Rezession zunächst unwahrscheinlicher erscheinen lassen, Zweiteres beobachtet werden.“

Wie entwickelt sich der Markt für den Rest des Jahres?

Wie geht es also weiter mit dem Börsenjahr 2023? Risse glaubt, dass der durch Short Squeezes getriebene Aufschwung noch weitergehen könne. Schließlich würden viele Investoren noch immer auf fallende Kurse setzen. „Dass die restriktive Geldpolitik aber vollkommen ohne negative Folgen für die Aktien bleibt, kann ich mir kaum vorstellen und erwarte in den nächsten Monaten irgendwann deutliche Kursrücksetzer“, sagt er. „Der Auslöser kann dann auch eine relative Lappalie sein.“ Kielkopf ist deutlich optimistischer. „Die jüngst wieder besser ausgefallenen Konjunkturindikatoren beflügelten die Aktienmärkte, sorgten an den Zinsmärkten jedoch auch direkt wieder für Spekulationen, dass es doch noch zu mehr Zinserhöhungen kommen könnte“, sagt der Experte von HQ Trust. So preist der Markt die Wahrscheinlichkeit für einen weiteren Zinsschritt der Fed im Juli nun auf mehr als 65 Prozent. „Dieser Balanceakt der Zentralbanken, die Inflation herunterzubringen, ohne die Konjunktur crashen zu lassen – das sogenannte Soft Landing – wird die Märkte weiterhin im Griff behalten“.

Bei den großen amerikanischen Tech-Aktien dürfte das Potential angesichts der erreichten Bewertungen weitestgehend ausgereizt sein. „Sollte die Konjunktur stabil bleiben und es auf der Inflationsseite zu keinen größeren Überraschungen mehr kommen, besteht für die anderen Segmente des Marktes durchaus Aufholpotenzial“, glaubt Kielkopf. Dennoch seien die Risiken nach wie vor groß, da sich das höhere Zinsniveau nach und nach auf die Realwirtschaft auswirken wird und die Effekte schwer abzuschätzen sind.

Wichtiger Hinweis: Bei dem verfassten Text handelt es sich um die Meinung des Autors. Er stellt weder eine Kauf- bzw. Verkaufsempfehlung oder eine Beratung dar. Beratungen können immer nur persönlich geschehen. Wenn Sie eine Beratung wünschen, nutzen Sie bitte eine der Kontaktmöglichkeiten.