Die Folgen der Zinswende für die Branche

In Italien ist der kleine Lebensversicherer Eurovita unter den aufgelaufenen stillen Lasten zusammengebrochen – die Pleite der Cinven-Tochter sei ein Warnschuss für die hiesige Branche, meint der Rating-Spezialist Marco Metzler.

Hier erläutert er, was die Lage in Italien von Deutschland unterscheidet, warum ein Aussitzen der stillen Lasten nicht so einfach ist und warum ein Storno-Verbot durch die Bafin besonders brisant wäre.

Die Zinswende fordert auch in Europa erste Opfer. Doch anders als in den USA traf es keine Banken, sondern einen Lebensversicherer. In Italien brach Eurovita unter den aufgelaufenen stillen Lasten zusammen – eine Warnung, was auch deutschen Lebensversicherern passieren kann. Summieren sich ihre stillen Lasten inzwischen doch bereits auf 110 Milliarden Euro – Tendenz weiter steigend.

Der Versicherer Eurovita geriet in Schwierigkeiten, weil die EZB die Zinsen zu schnell und zu stark erhöhte. Denn das führte dazu, dass sich der Wert, der von Eurovita gehaltenen Staatsanleihen stark verringerte. Viele Eurovita-Kunden veranlasste das wiederum, ihre Versicherungspolicen vorzeitig zu kündigen, um das Geld in höher rentierliche Produkte zu investieren.

Eurovita – ein kleiner Lebensversicherer mit gerade mal 350.000 Versicherungsnehmern und Policen im Wert von 15,3 Milliarden Euro – hatte in Niedrigzinszeiten stark in Staatsanleihen investiert, darunter viele deutsche und französische. Diese verloren durch die Erhöhungen des Zinsniveaus rasch und deutlich an Wert. Als viele Kunden daraufhin ihre Gelder aus Policen abzogen, stellte die italienische Versicherungsaufsicht Ivass Anfang 2023 den Konzern unter die Kontrolle eines Sonderverwalters. In der Folge wurde auch der vorzeitige Abzug von Geldern aus den Lebensversicherungspolicen komplett unterbunden.

Zudem forderte die Ivass den Eurovita-Eigentümer Cinven, ein britischer Private-Equity-Fonds, auf, das Eigenkapital um 250 Millionen Euro aufzustocken, da es unter die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestwerte für die Solvabilität zu fallen drohte. Doch Cinven schoss lediglich 100 Millionen Euro zu – und fand auch keinen Käufer für das angeschlagene Unternehmen.

Das Beispiel Eurovita führt die Brisanz der stillen Lasten in der europäischen Lebensversicherungsbranche besonders deutlich vor Augen – insbesondere in Italien und Deutschland. In diesen beiden Ländern sind die stillen Lasten der Lebensversicherer europaweit am höchsten. Metzler Ratings hatte deshalb bereits im April dieses Jahres eine Kurzstudie zu dem brisanten Thema veröffentlicht: „Deutsche Lebensversicherer: Die wundersame Wandlung – wie aus stillen Reserven plötzlich Stille Lasten wurden“. Wesentliche Erkenntnisse aus dieser Studie: Noch Ende 2021 bestanden in Deutschland branchenweit stille Reserven von 155 Milliarden Euro.

Doch bedingt durch die Zinswende der Zentralbanken weltweit sank der Kurswert niedrig verzinster Anleihen, die während der vergangenen zehn Jahre erworben wurden, massiv. Aus stillen Reserven wurden laut Studie unterm Strich stille Lasten von rund 110 Milliarden Euro. Im Schnitt entspricht dies rund einem Zehntel des Bestands an Kapitalanlagen, die Versicherer für ihre Kunden halten. Und die bisher vorliegenden Jahresabschlüsse für 2022 bestätigen unser Studienergebnis.

Stille Lasten sehr unterschiedlich verteilt

Einige Versicherer wie WWK und Basler haben weniger als 5 Prozent stille Lasten in den Büchern. Andere Versicherer wie Alte Leipziger, Gothaer und Cosmos hingegen weisen in ihren Jahresabschlüssen für 2022 stille Lasten von mehr als 15 Prozent bis hin zu 20 Prozent aus (eine Übersicht zu den stillen Lasten deutscher Lebensversicherer finden Sie hier). Da die Zinsen 2023 weiter gestiegen sind und wohl noch weiter steigen werden, dürfte sich die Situation weiter verschärfen. Bis Ende 2023 könnten die stillen Lasten laut seiner Schätzung netto auf über 200 Milliarden Euro steigen. Dies entspräche dann im Schnitt rund 20 Prozent des Kapitalbestandes der deutschen Lebensversicherer. Kurzum: Die Lage ist ernst.

Auch einen deutschen Versicherer mit erhöhtem Storno kann dann jederzeit das gleiche Schicksal ereilen wie Eurovita. Zudem ist die Solvency-II-Kennzahl kein guter Indikator für die aktuelle Finanzsituation von Gesellschaften mit hohen stillen Lasten. Denn die Solvency-II-Quote bestätige selbst Unternehmen noch eine ausreichende Kapitalausstattung, die bilanzielle Probleme haben – etwa, wenn die stillen Lasten höher sind als das ausgewiesene HGB-Eigenkapital.

Da wäre es besser, man würde den in der Praxis bewährten Stress-Test auf Basis der HGB-Zahlen wieder einführen. Nach meiner Einschätzung würden diesen Test aktuell 90 Prozent der deutschen Lebensversicherer nicht bestehen. 2002 – während der letzten großen Krise der Lebensversicherer – sind dagegen „nur“ rund ein Drittel der Versicherer bei diesem Test durchgefallen.

Die Hoffnung, die stillen Lasten einfach aussitzen zu können, indem die niedrig verzinsten Anleihen im Bestand einfach bis zur Endfälligkeit gehalten werden, haben viele Manager deutscher Lebensversicherer. Diese Hoffnung ist jedoch trügerisch. Sobald die stillen Lasten nämlich erst einmal einen Wert von 20 Prozent der Kundengelder erreicht haben, wird es für die Zukunft schwierig. Dann steht die Zukunftsfähigkeit – und somit die Nachhaltigkeit – des Lebensversicherers auf dem Spiel, da kaum noch Kapital für renditeträchtigere Anlagen zur Verfügung gestellt werden kann.

Ein Lebensversicherer mit 20 Prozent stillen Lasten kann keinesfalls mit einem positiven ESG-Rating rechnen und disqualifiziert sich damit bei privaten und institutionellen Investoren. Doch deutschen Lebensversicherern können noch weitere Gefahren drohen: Zum einen eine erhöhte Stornowelle von Privatkunden und zum anderen ein markanter Rückgang im Einmalbeitragsgeschäft mit institutionellen Kunden. Zwar ist eine erhöhte Stornowelle bei privaten Kunden bundesweit derzeit nicht zu sehen, jedoch kann sie – etwa wegen der hohen Inflation – für die nahe Zukunft auch nicht ausgeschlossen werden.

Wann den Lebensversicherern Liquiditätsengpässe drohen

Schlimmer sieht es derzeit bei der zweiten Gefahrenquelle aus. So betreiben einige Lebensversicherer bisher in großem Umfang institutionelles Einmalbeitragsgeschäft. Inzwischen ziehen institutionelle Kunden diese Gelder verstärkt ab. Beispiel Gothaer Leben: Dieser Versicherer meldet – bei rund 16 Milliarden Euro Kapitalanlagen – stille Lasten von 2,6 Milliarden Euro, was einer Quote von 16,3 Prozent entspricht. Und das bei einem HGB-Eigenkapital von knapp 0,5 Milliarden Euro. Zudem verzeichnet die Gothaer Leben einen deutlichen Rückgang im institutionellen Einmalbeitragsgeschäft, das bisher in signifikantem Umfang betrieben wurde.

Bei weiter steigenden Zinsen kann, das hier zu Stornovolumina führen, bei denen in großem Umfang stille Lasten ergebniswirksam realisiert werden müssten. Käme es in dieser Situation dann auch noch

zu massenhaften Kündigungen von Privatkundenpolicen, wäre die Gothaer – aber auch andere deutsche Lebensversicherer – plötzlich in einer misslichen Lage: Es entstünden Liquiditätsengpässe. Kapitalanlagen, die unter Kaufwert notieren, müssten mit hohen Verlusten verkauft werden und letztlich könnten womöglich nicht mehr alle Kundenforderungen bedient werden.

Die eigentliche Gefahr: Wenn die Bafin das vorzeitige Storno untersagt

Dann käme es im Gegensatz zu Italien zu einem oder sogar mehreren Protektor-Fällen. Wie das Beispiel Eurovita zeigt, ist dabei die eigentliche Gefahr für die Kunden nicht, dass der Versicherer die kompletten Kundengelder verliert, sondern dass die Aufsichtsbehörde Bafin das vorzeitige Storno untersagt und die Kunden ihre Gelder mit geringer Verzinsung bei hohen Inflationsraten über Jahre hinweg bis zur Endfälligkeit in der Police belassen müssen. Dies führt letztlich dazu, dass sie am Ende einen erheblichen Realzinsverlust zu tragen haben.

Zudem kommen in einem solchen Szenario sowohl institutionelle als auch private Kunden, die auf eine vorzeitige Kündigung angewiesen sind – etwa, weil institutionelle Anleger Verluste aus Zinsdifferenzgeschäften ausgleichen oder private Kunden wegen gestiegener Zinsen höhere monatliche Raten zur Finanzierung ihres Eigenheims leisten müssen – nicht an die von ihnen dann dringend benötigte Liquidität.

Angesichts der negativen Realverzinsung empfiehlt Metzler Ratings den Versicherungsnehmern klassischer Lebensversicherungen, genau durchzurechnen, ob sich die Fortführung ihrer bisherigen Police überhaupt noch lohnt. Oder ob sie diese nicht besser in eine fondsgebundene Lebensversicherung eintauschen, bei der in Sachwertfonds investiert wird, die dank ihrer Investitionsschwerpunkte auf Realwerte eine Verzinsung über der Inflationsrate erwirtschaften können. Den Besitzern von Fondspolicen rät Metzler zu überlegen, ebenfalls in Sachwertefonds umzuschichten.

Rolf Klein: Bei Liechtensteiner Lebensversicherer, wie der Vienna-Life, ist das Depotvermögen zu 100% geschützt und zudem rechtlich verankert.

Wichtiger Hinweis: Bei dem verfassten Text handelt es sich um die Meinung des Autors. Er stellt weder eine Kauf- bzw. Verkaufsempfehlung oder eine Beratung dar. Beratungen können immer nur persönlich geschehen. Wenn Sie eine Beratung wünschen, nutzen Sie bitte eine der Kontaktmöglichkeiten.